Über Erasmus von Rotterdam
Deutschlandfunk Kultur über Erasmus: Humanist ohne Grenzen
Zeitgenossen nannten ihn das Licht der Welt. Erasmus von Rotterdam ist heute den meisten nur noch dem Namen nach bekannt. Sein umfangreiches Werk ist aus dem Blickfeld verschwunden. Wer also war der Priester und Gelehrte, Autor und Aktivist?
Hier geht es zum Beitrag von Deutschlandfunk Kultur.
Die Handschrift des Erasmus
«... immer knauserig, arm, mürrisch, ungerecht und hart gegen sich selbst, den Mitmenschen lästig und verhasst, von Bleich- sucht, Auszehrung, Siechtum und Triefäugigkeit entstellt, von Vergreisung und Grauhaarigkeit vor der Zeit mumifiziert und vor der Zeit sich aus dem Leben stehlend. Doch was spielt es schon für eine Rolle, wenn so einer stirbt, der nie gelebt hat?» So erbarmungslos seziert die Göttin Stultitia im Lob der Torheit «das Musterbeispiel eines Weisen».
Erasmus selbst, der die Torheit hier sprechen lässt, hat dieses Zerrbild gewiss nicht auf sich selbst gemünzt, auch wenn ihm Selbstironie nicht fremd war. Er war kein abgehobenes, frühzeitig verknöchertes Wesen, sondern ein Suchender, der keine vorgefertigten, gar unumstösslichen Antworten parat hatte, sondern unablässig Fragen stellte, wohl wissend, dass nichts je endgültig geklärt sein würde. Dass er sich dabei stets auf die Hilfe jener stützte, die ihm vorangegangen waren, verstand sich von selbst – ob es sich dabei um die Autoren des griechischen Urtextes des Neuen Testaments oder die antiken Dichter und Philosophen handelte, die er zu Rate zog. Um ihn herum war immer Renaissance, Erneuerung, Verbindung und Verbindlichkeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren untrennbar verbunden.
Doch auch räumlich war Erasmus ständig in Bewegung. Wer sich mit ihm beschäftigt, begegnet ihm in halb Europa, zumal in den geistigen Zentren. Er überquerte nicht nur mehrfach die Alpen, sondern auch den Ärmelkanal. Er lebte, studierte und arbeitete in Paris, London und Rom, in Leeuwen, Venedig, Freiburg und Basel – am liebsten dort, wo die besten Drucker waren (Aldus Manutius in Venedig, Johannes Froben in Basel). Ohne rastlos zu wirken, war er stets unterwegs, was hiess, dass er viel sah, viel mehr als andere zu seiner Zeit in mehreren Leben zu sehen bekamen: Menschen, Städte, Landschaften, Sitten, Lebensweisen.
Das wird viel dazu beigetragen haben, dass er nicht an den Knochen der festgefügten Gewissheiten nagte wie die mumifizierten Besserwisser aus dem oben zitierten «Lob der Torheit», die selbstgerecht in ihren Stuben hockten und auf ihren Vorurteilen beharrten.
Dass er ausgerechnet in Basel starb, war kein Zufall, aber es fehlte wenig und Freiburg (im Breisgau), das er nicht sonderlich liebte, wäre sein Sterbeort geworden; dorthin war er 1529 geflohen, weil er beim Basler Bildersturm, den er nicht guthiess, um sein Leben fürchtete. Dass am Ende dann doch niemand bei den Reformationswirren umkam, war umsichtigen Bürgern Basels zu verdanken; es waren wohl dieselben, die dem Katholiken Erasmus ausgerechnet im nunmehr protestantischen Münster die letzte Ruhestätte bereiteten – dort also, wo man gerade noch alles Bild- und Figurenwerk zerstört und jedweden «Totenkult» untersagt hatte. Einen Teil seines Ruhms als aufgeschlossene Stadt verdankt Basel wohl nicht zuletzt der Art und Weise, wie respektvoll sie mit Erasmus’ geistigem und weltlichem Erbe umging; Letzteres verwaltete der honorige Bonifacius Amerbach, der einer Stiftung vorstand, die sich insbesondere um bedürftige Studenten kümmerte. Das Epitaph, das dem Katholiken Erasmus – der niemals daran gedacht hatte, der römischen Kirche den Rücken zu kehren – 1538 im Münster errichtet wurde, ist der in Stein gemeisselte Beweis dieser Ehrerbietung.
Nachdem ich mich zur Vorbereitung auf dieses Festival in Erasmus’ Werk und Biographie vertieft hatte – beides kannte ich bis dahin nur oberflächlich –, schien es mir an der Zeit, etwas von dem zu sehen, was er hinterlassen hat: das Materielle, das von ihm nochvorhanden ist, Tinte auf Papier, seine Handschrift. Es lag nahe, mich in die Handschriftenabteilung der Basler Universitätsbibliothek zu begeben, wo sich der grösste Teil seines schriftlichen Nachlasses befindet; hier erlaubte man mir freundlicherweise, einen Blick auf das Stoffliche zu werfen, das immer noch da ist, frisch wie gestern: nicht nur – unter unzähligen anderen Dokumenten – ein gedrucktes Exemplar des von ihm aus dem Griechischen übersetzten Neuen Testaments mit handschriftlichen Korrekturen, sondern auch die griechischen Originale, die Erasmus erstmals ins Lateinische übersetzte und kommentierte. Da sie stark von der gebräuchlichen lateinischen Übersetzung (der sogenannten Vulgata) abwich, kam diese Publikation (Basel, 1516) einer Sensation gleich.
Neben den ehrfurchtgebietenden, mit Notizen versehenen Drucken gibt es auch Briefe, deren Tinte kaum verblasst ist. Die Schrift ist gestochen scharf, sie lässt sich müheloser entziffern als so manche Handschrift aus dem Jahr 2022. Es sind darunter kurze, einst gefaltete, längst geöffnete, geglättete und katalogisierte Billette, an denen immer noch die erbrochenen Siegel und die Falze zu erkennen sind. Auf der Rückseite liest man die Adresse des Empfängers, als habe Erasmus sie eben erst hingeschrieben. Wer sich nur ein wenig mit Erasmus von Rotterdam beschäf- tigt, wird bald erkennen, dass er – der Theologe, Satiriker, Menschenerzieher, Briefeschreiber, sanfte Reformator, streit- bare Katholik, weltoffene Europäer, unbestechliche Denker und grosse Stilist – ein umfassender Geist geblieben ist, der unsere volle Aufmerksamkeit verlangt, sobald wir auch nur einen Zipfel seines Werks erhaschen. Man widmet sie ihm gern.
Erasmus war eben nicht «knauserig und arm», nicht «lästig» noch «vor der Zeit mumifiziert», sondern freigebig, geistreich und aufgeschlossen. Sein Denken war so klar wie seine Handschrift, und beides ist heute so lesbar wie vor fünfhundert Jahren.
Text: Alain Claude Sulzer